Reise in die Region Tschernihiw November 2024 Teil 4

 
22. 11. 2024

 

Historisches Museum Tschernihiw und dann nach Korjukiwka, Jugendzentrum KUB, Wiedersehen mit vielen Bekannten, Gespräch mit Jugendlichen, ein fröhlicher Abend, der bei der Feuerwehr endet...

 

Am nächsten Morgen werde ich von Iryna, Mitarbeiterin in der Oblast-Administration, abgeholt. Sie spricht gut Englisch. Mir kommt ihr Gesicht gleich bekannt vor, ich rätsle aber zunächst, woher. Iryna hilft mir weiter. Wir hatten uns bereits im Mai 2024 in Korjukiwka getroffen, dort hatte sie beim Treffen zwischen dem stellvertretenden Gouverneur Ivan Vashchenko und Ministerin Bettina Martin übersetzt.

Tschernihiw zum Dytynets Park

Auf direktem Weg geht es zum Tarnovskyi Chernihiv Regional Historical Museum  im Chernihiv Dytynets Park. Das Museum ist Teil des "Nationalen architektonischen und historischen Denkmalensemble „Altes Tschernihiw “.

 

Mehreren Damen empfangen mich am Eingang des Museums, Iryna hat bereits alles organisiert. Am Eingang gibt es wie in vielen öffentlichen Gebäuden, in denen ich war, einen uniformierten Sicherheitsmann. Alle sind warm angezogen, das Museum ist zwar grundsätzlich geheizt, aber doch kühl.

Ich erhalte eine Führung auf Englisch von einer älteren Dame, gut verständlich und professionell. Ein Museum voller Schätze, von den Anfängen der Region bis zur Gegenwart. Reichhaltig dargestellt werden insbesondere die letzten 100 Jahre, der Kampf der Ukrainerinnen und Ukrainer um ihre Nation und Unabhängigkeit sind sehr anschaulich nachvollziehbar.

 

So reichhaltig die Ausstellungen sind, so offensichtlich ist der Sanierungsbedarf des Gebäudes, wobei innen in den Ausstellungsräumen alles gepflegt erscheint. Welch eine Herausforderung für die Region Tschernihiw, diese Schätze zu bewahren und vor allem die Gebäude, auch die umliegenden Kirchen, ehemaligen Klosteranlagen zu sanieren? Wie soll das alles finanziert werden, bevor der Zahn der Zeit alles weiter zerfrisst?

Wieso haben wir in Deutschland die Geschichte der Ukraine, ihren Kampf zwischen den hegemonialen Großmächten im Westen und im Osten nicht wahrgenommen, nicht einbezogen in unser Weltbild von Osteuropa?

Ich bemerke in den gut 90 Minuten unseres Aufenthalts keine weiteren Besucher, na klar, es ist Freitagvormittag. Aber alles muss vorgehalten werden für Besucher, das Personal, die Räume. Und dass ist wichtig für die Ukrainerinnen und Ukrainer in ihrem Selbstbehauptungskampf gegen den Hegemon Russland, der abstreitet und abwertet, dass es eine eigenständig ukrainische Kultur, Geschichte, Sprache überhaupt gibt.

Es ist jetzt 12 Uhr durch, Iryna begleitet mich noch ein wenig in Richtung Hotel und Auto, und dann geht es weiter nach Korjukiwka. Nach einer kleinen Extra-Schleife durch Tschernihiw, GoogleMaps sei dank, erkenne ich die Ausfallstraße Richtung Nordosten wieder und fahre durch Tschernihiws Stadtrand, wo viele, viele Zerstörungen aus der Zeit der russischen Okkupation im Frühjahr 2022 noch sichtbar sind. Welch ein Gegensatz zum Stadtzentrum!

Am Stadtrand noch einmal vollgetankt und dann Richtung Mena. Es hat ja geschneit und gefroren die letzten Tage, aber die Straße ist gut befahrbar, mit 80 bis 100 km/h geht es voran. In Mena will ich irgendwo etwas zu Mittag essen. Auf GoogleMaps habe ich dort mehrere Möglichkeiten entdeckt. Ich möchte in ein als Pizzeria gekennzeichnetes Lokal. Im Erdgeschoss betrete ich einen Lebensmittelladen. Ich bleibe erst einmal stehen, um die bunte Vielfalt in den Regalen und Truhen kurz zu bewundern. Das Restaurant ist im Keller. Zwar kein Tageslicht, aber dafür quasi ein shelter.

Ich bestelle mehr oder weniger mit Zeichensprache einen Borschtsch, dann wird ein Mann am Nebentisch auf mich aufmerksam. Er spricht leidlich Englisch, begrüßt mich sehr freundlich und holt dann den Sekretär des Stadtrates von Mena, Yurii Stalnychenko, der am Nebentisch sitzt, zu uns. Nachdem ich kurz erläutert habe, warum ich hier bin, zeigt Yurii Stalnychenko mir auf seinem Handy ein Bild mit sich und Ministerpräsidentin Schwesig. Ich glaub´es nicht. Hier, in den ländlichen Weiten im Norden der Ukraine! Die Welt ist klein! Yurii Stalnychenko hat in Berlin an einer Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine teilgenommen und dort im Sommer Schwesig getroffen. Er übergibt mir seine Business-Karte. Es herrscht geradezu ausgelassene Stimmung. Aber ich muss weiter.

 

Korjukiwka -> begrüßt uns mit seinem Wappenschild noch im Wald, bevor nach und nach Häuser am Straßenrand erscheinen.

Jugendzentrum KUB Korjukiwka 11 2024

Um kurz nach 14 Uhr halte ich in Korjukiwka -> vor dem Jugendzentrum KUB, der liegt direkt an der Straße nach Mena, nicht weit vom Ortseingang entfernt in einem Mehrzweckgebäude, nebenan ist eine Bank. Eine Bankfiliale in einem Ort auf dem Land in der Region Tschernihiw muss man sich sehr einfach und schmucklos vorstellen, anders als zuhause.

ukrainische Flagge vor der russischen Botschaft BerlinIch rufe Volydymyr Onitschuk / Володимир Онищук an, er kommt aus dem Haus und wir fahren zusammen ins Zentrum von Korjukiwka, wo ich in einem sehr einfachen Hotel übernachten werde. Volodymyr ist der Leiter des kommunalen Jugendzentrums KUB und auch in international finanzierten Entwicklungsprojekten für die Region aktiv. Volodymyr habe ich zuletzt im Oktober in Berlin getroffen und wir sind einen halben Tag durch die Berliner Innenstadt gezogen.

Ich checke im einzigen Hotel in Korjukiwka, Polissya, ein, bezahle gleich wie in allen Hotels üblich und bringe mein Gepäck auf´s Zimmer. Ich habe diesmal ein Zimmer im ersten Stock nach Norden raus, ruhig, aber wie ich später merke, nur mit Licht im Bad und dem kleinen Vorraum. Wenn es draußen dunkel ist, gibt es in meinem Zimmer nur ein Dämmerlicht.

Um 15 Uhr gibt es ein Treffen im Rathaus von Korjukiwka mit dem Sekretär des Stadtrats von Korjukiwka und Анастасія Плющ / Anastasia Pljuschtsch. Sie ist Mitglied des Stadtrates von Korjukiwka und offensichtlich für die Repräsentation der Stadt gegenüber ausländischen Gästen zuständig. Außerdem ist Roman anwesend, er spricht sehr gut Englisch und hat bei ausländischen Besuchern die Aufgabe der Kommunikation und Übersetzung. Beide kenne ich schon von meinem Besuch im Mai 2024, von Anastasia gibt es eine herzliche Begrüßung, während der Sekretär des Stadtrates eher freundlich, aber vielleicht etwas skeptisch (?) und Roman in seiner Rolle sachlich erscheinen. Es werden Gastgeschenke ausgetauscht und dann geht es unmittelbar mit einem Kleinbus der Stadtverwaltung, der Sekretär des Stadtrates fährt, zu einem Kindergarten, der besichtigt werden soll und für den die Kapazitäten des Schutzraumes erweitert werden müssen.

Draußen ist es schon dunkel, wir stolpern ein wenig in den Kindergarten herein und werden dort von einer Delegation der Betreuungskräfte nebst Leitung empfangen. Es geht ins Souterrain, wo sich der Schutzraum für die Kinder befindet, spärlich ausgestattet, hier ist Platz für 100 Kinder, ich kann mir kaum vorstellen, wie das praktisch gehen soll. Der Kindergarten betreut aber 200 Kinder und so ist das Problem offensichtlich. Ich kann gerade so aufrecht stehen, es laufen Leitungen und Rohre unter der Decke lang, bei jedem Schritt muss ich den Kopf einziehen. Gibt es hier eine Lüftung? Im Souterrain ist noch Platz für eine Erweiterung des Schutzraumes, aber wie soll das finanziert werden. Die Frage steht im Raum, ob hier geholfen werden kann. Das Land Mecklenburg-Vorpommern hilft bereits bei der Finanzierung eines Schutzraumes einer Schule in Korjukiwka.

 

Dann geht es zurück zum Hotel / Auto, um 18 Uhr habe ich ein Treffen im Jugendzentrum KUB, es soll ein Gespräch mit Jugendlichen zum Thema Berufswahl geben. Wie allermeist bei Terminen, habe ich keine genaue Vorstellung davon, was mich erwartet.
Vor dem Eingang sind einige Kinder und Jugendliche, ich glaube Gesichter aus dem Feriencamp 2024 in Wismar im vergangenen Juni wiederzuerkennen, vor allem auch, weil ich von einigen Gesichtern förmlich angestrahlt werde. Direkt hinter dem Eingang sitzen zwei ältere Frauen, wohl als Aufsicht darüber, wer hier ein- und aus geht.
Innen ist es brechend voll, ein großes Hallo und Wiedersehen mit vielen Menschen, die ich schon ein wenig kenne. Kateryna und Volodymyr sind da, Anna ist da, Olga, Alina und Olena sind da, Mariia ist da. Kateryna ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Historischen Museum Korjukiwka, wir kennen uns bereits seit dem Mai 2024 und haben guten Kontakt gehalten. Anna kenne ich bereits von meinem Besuch im Mai 2024 und ich habe sie im Juli in Schwerin als Teil der Delegation des DUB getroffen, Olga, Alina und Olena sind Betreuerinnen im Feriencamp in Wismar gewesen. Und ich erkenne vielleicht 12 Kinder wieder, die am Feriencamp teilgenommen haben. Ein Kind drückt mir ein selbstgemaltes Bild in die Hand. Ich lerne Tetiana Meleshko kennen. Sie ist Deutsch- und Englisch-Lehrerin in Korjukiwka und wird bei dem Gespräch zur Berufswahl gleich dolmetschen.

Der Raum ist voll, alle Stühle sind besetzt und einige Menschen stehen an der Seite an den Wänden.
Als erstes soll ich mich vorstellen, vor allem meine berufliche Vita ist gefragt. Ich nenne kurz die wichtigsten Stationen meines Berufslebens und versuche mit ein paar Worten die Aufgaben zu umschreiben. Wie schon oft habe ich den Eindruck, dass sich unter einer Aufgabe in einem Ministerium niemand so recht etwas vorstellen kann. Abteilungsleiter ? Ministerium? Das ist doch sehr wenig anschaulich, das hat noch niemand erlebt, da war noch niemand drin, so jemanden kennt sonst auch niemand. Nicht nur in Korjukiwka, zuhause ist es genau so.

 

Volodymyr hatte schon vor ein paar Tagen geschrieben, dass ich an einer Veranstaltung mit Jugendlichen zum Thema Berufswahl teilnehmen sollte. Aber auf meine Nachfrage, was seine Erwartung sei, kam keine rechte Antwort.
Bereits bei unserem Treffen Ende Oktober 2024 in Berlin hatte wir das Thema am Wickel. Vor meinem geistigen Auge sehe ich den Arbeitskräftemangel in Deutschland und auf der anderen Seite die vielen Menschen aus der Ukraine, die seit 2022 nach Deutschland gekommen sind. Derzeit leben in Mecklenburg knapp 30.000 Menschen aus der Ukraine. Die Schwierigkeiten der beruflichen Integration dieser Menschen, soweit vom Alter her passend, sind regelmäßig in den Medien. Gleichzeitig frage ich mich, was Jugendliche aus Korjukiwka, ca. 50 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, für Träume haben. Volodymyr hat in Berlin gesagt, wer als Jugendlicher einmal Korjukiwka verlässt, z. B. wegen eines Studiums, der kommt sehr selten wieder zurück. Und die Ukraine, gerade auch die Region Tschernihiw am Rande im Norden, braucht junge Menschen, Fachkräfte. Wer soll die Gesellschaft und die Wirtschaft am Laufen halten, wer soll die Demokratie weiter entwickeln, wer soll das Land wieder aufbauen? Ich werde jedenfalls keine Werbung für Deutschland als Land zum Arbeiten machen…
Ich erzähle ein paar einfache „Weisheiten“ (redet mit euren Eltern und Verwandten, Nachbarn, die praktisch in einem Beruf arbeiten, geht mit ihnen an ihren Arbeitsplatz…), mache Mut zu Veränderungen, wenn eine berufliche Situation nicht passt (love it, change it, leave it!), dann gibt es noch ein Fragen zu meinen Hobbys und dann ist dieser Teil des Abends nach einer guten Stunde zuende. Ob die jungen Menschen hier etwas mitgenommen haben?


Es folgt Musik mit Gitarre und Gesang. Vielleicht 6 bis 7 Jugendliche haben eine akustische Gitarre in der Hand. Sie bieten eine tolle Performance, es ist eine Stimmung zum Tanzen. Dahinter steckt Artem / Артем Тихонов, der Gitarrenlehrer. Er leistet beeindruckendes, hat anscheinend einen tollen Zugang zum Jugendlichen im Jugendzentrum und auch sonst, wie man auf seiner Facebook-Seite sehen kann. Es gibt mindestens eine Band, die zum Jugendzentrum gehört.


Nach einer weiteren Stunde ist das Programm für uns im KUB zuende.

Volodymyr hat einen Tisch im Khutorok reserviert, einem ukrainischen Restaurant in einem runden Holzhaus. Khutorok Korjukivka verpix Das Restaurant ist voll. Wir rücken zusammen mit Olena, ihrem Mann und einem mit ihnen befreundeten Ehepaar. Der Tisch ist reichlich voll gedeckt, es gibt mehrmals eine Runde Hochprozentiges und wir üben „Prost“ auf Ukrainisch (Ваше здоров'я.). Die Musik ist relativ laut, eine Gruppe von vielleicht 10 Frauen fängt an zu tanzen und später tanzen auch wir. Eine tolle, ausgelassene Stimmung.

Um 22 Uhr schließt das Lokal, auch, weil dann der Strom abgestellt wird. Russland zielt mit seinen Raketen und Drohnen auch in diesem Winter wieder vor allem auf die Energieinfrastruktur. Deswegen gibt es häufig Stromausfall und Stromsperren, Dieselgeneratoren vor Häusern und Lokalen halten die nötigste Versorgung aufrecht.

Dann kommt auf einmal der Vorschlag, ob wir einmal kurz bei der Feuerwehr vorbei gehen wollen? Echt jetzt, am Freitag um 22 Uhr abends?? Einer der Männer am Tisch arbeitet bei der Feuerwehr. Es sind nur 300 Meter. Wir brechen auf und sind 10 Minuten später vor dem Feuerwehrgebäude von Korjukiwka. Dort gibt es offensichtlich einen 24 Stunden 7 Tage die Woche Bereitschaftsdienst, drei oder vier Männer sind anwesend. Keine Fotos machen hier! Uns werden die neuen Feuerwehrfahrzeuge gezeigt, aus dem Ausland gespendet. Ein Pickup wurde von Südkorea gespendet. Wir gehen durch die Räume, ein Feuerwehrmann führt uns vor, wie er vom ersten Stock, wo die Aufenthaltsräume sind, an einer Stange in einem Schacht ins Erdgeschoss runter rauscht. Ich schaue kurz runter, nee, lieber nicht nachmachen. Das muss man trainieren, da kann man als Laie nicht einfach so an der Stange runter hüpfen.

Um etwa 23 Uhr verabschieden wir uns, ich stolpere durch Schneematsch zum Auto, ab zum Hotel und ab ins Bett. Hier gibt es keinen shelter und Licht nur im Vorraum meines Zimmers, das jetzt also ziemlich duster ist.

Wie viele Luftalarme wieder diese Nacht? Wieviele russische Drohnen und Raketen fliegen diese Nacht wieder über Korjukiwka Richtung Kyjiv oder werfen ihre tötliche Fracht schon hier ab? Ich erlebe es ein paar Tage, die Menschen in der Ukraine seit über 1000 Tagen. Ich schlafe bald ein.

Diese Lebensfreude, diese Zuversicht, Entschlossenheit und Tatkraft, diesen gemeinschaftlichen Zusammenhalt wünsche ich mir zuhause auch statt german angst.


Was für ein Tag wieder!

Morgen habe ich mit Kateryna und Alina etwas ganz besonderes vor. ...

 

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© Copyright Text und Bilder Gerhard Bley