20. 11. 2024
Rundgang am Krasna-Sqaure, zerstörtes Jugendzentrum, Schevtchenko-Theater, Pjatniza-Kirche und am Abend das Treffen mit Olena, Volodymyr und Vladyslav.
Am nächsten Morgen werde ich um 10 Uhr von Anastasiia und Lesya abgeholt, zwei Mitarbeiterinnen aus der Oblast-Administration.
Lesya hatte ich Anfang Oktober kurz in Schwerin kennengelernt. Sie war Teil einer kleinen Delegation aus Tschernihiw, die mit einem Pavillon am Bürgerfest zum Tag der Deutschen Einheit teilgenommen hat. Wir haben eine Stunde Zeit für einen kleinen Rundgang Richtung Krasna-Square.
Vorbei an einer Ausstellung mit gestorbenen Soldaten aus Tschernihiw, Helden der Ukraine.
mit Bildern von Mai 2024
Danach geht es zum ausgebombten ehemaligen Jugendzentrum von Tschernihiw, früher einmal ein Kino. Vor der russischen Vollinvasion ab dem Februar 2022 auf die Ukraine war die Renovierung des Jugendzentrums geplant gewesen, dann wurde Ende Februar 2022 alles von einer russischen Rakete zerstört. Im Mai 2024 hatte mir Iryna, die Leiterin des Jugendzentrums, schon einmal das Haus und Gelände gezeigt. Seit dem hat sich hier ersichtlich nichts verändert. Iryna hat mittlerweile eine neue Aufgabe im Bereich internationale Beziehungen und Investitionen.
Iryna erläutert die Situation des Jugendzentrums Tschernihiw - Mai 2024
mit Bildern aus Mai 2024
Lesya hat die Türen des Schevtschenko-Theater Tschernihiw für uns geöffnet (Akademisches Ukrainisches Regionales Musik- und Schauspieltheater Tschernihiw, benannt nach Taras Schewtschenko, dem bedeutendsten ukrainischen Lyriker schlechthin, der stark zur Entwicklung der modernen ukrainischen Sprache und zum Erwachen des ukrainischen Nationalbewusstseins beitrug ), wo wir am Eingang von Direktor Serhii Moisienko empfangen werden. Sehr eindrucksvoller Rundgang, ich darf alles fotografieren. Nach dem Bombeneinschlag am 19. 8. 2023 auf das Zentrum der Stadt, der das Theater schwer getroffen hat, war der Spielbetrieb nur kurz unterbrochen. Mit unglaublicher Improvisationskunst wurde weitergemacht. Es gibt viele Fotos zu den Schäden an den Wänden und Bilder von im Krieg umgekommenen Schauspieler und Schauspielerinnen, die teils als Soldaten gekämpft haben. Kurz vor unserem Besuch ist ein wichtiger Schauspieler als Soldat gefallen. Sein Portrait hängt bereits an der Wand. Radio Tschernihiw ("Öffentliches Tschernihiw" https://suspilne.media/chernihiv/ ) hat dazu eine Dokumentation veröffentlicht.
Die materiellen Schäden werden gezeigt, natürlich ist die vollständige Wiederherstellung vom Theater und der Stadt Tschernihiw nicht finanziell zu schaffen. Hilfe aus dem Ausland ist erforderlich und erste Hilfe gibt es auch schon. Eine Tafel zeigt, dass Frankreich, welches sich in der Region Tschernihiw erheblich engagiert, schon geholfen hat. Aber es hat bisher nur für das Allernötigste gereicht. Das Dach, an dem beim meinem vorherigen Besuch im Mai 2024 gearbeitete wurde, ist von außen fertig, jedenfalls ist von außen nichts anderes zu sehen. Innen ist noch so viel zu tun.
Das erste Bild aus dem Mai 2024.
Danach werde ich von der netten Begleitung aus der Administration entlassen, ich finde den Weg ins Hotel alleine.
Gleich hinter dem Theater in einem kleinen Park steht die Pjatniza-Kirche, vielleicht das bekannteste Wahrzeichen Tschernihiws. Sie wurde Ende des 12. – Anfang des 13. Jahrhunderts erbaut. Die Kirche wurde mehrfach zerstört und wieder aufgebaut. Zum ersten Mal im Jahr 1239, während der mongolisch-tatarischen Invasion. Kardinale Änderungen fanden im XVIII. Jahrhundert (nach dem Brand von 1750) und im 19. Jahrhundert statt, als der Kirche Seitenschiffe hinzugefügt wurden, und in den Jahren 1818-20. Nach dem Projekt des Architekten A. Kartashevskyi wurde an der Westfassade ein Rundturm mit Glockenturm angebaut. Die Kirche wurde auch im Zweiten Weltkrieg zerstört. 1943-45 wurden Konservierungsarbeiten durchgeführt. Die Restaurierung wurde in der angeblich ursprünglichen Form nach dem Projekt des herausragenden russischen Restaurators P. Baranovsky abgeschlossen. Gleichzeitig wurden die ursprünglichen Seitenvorräume nicht wiederhergestellt, ebenso wie die Anbauten des 17.-19. Jahrhunderts, der Rundbau-Glockenturm wurde abgebaut.
Die Kirche ist geöffnet und ich gehe rein. Nein, ich darf keine Fotos machen. In einer Schale mit Sand stehen brennende, schlanke Kerzen zum Andenken an geliebte Menschen oder für Segenswünsche. Ich kaufe zwei Kerzen, zünde sie an brennenden Kerzen an und stelle sie in den Sand. Der alten Dame im kleinen „Schalter-Verschlag“ rechts neben dem Eingang habe ich den doppelten Preis für die Kerzen gezahlt. Als ich schon gehen will, gibt sie mir zu verstehen, dass ich jetzt doch Fotos machen darf. Sehr schön. Die enge, aber hohe Kirche ist glanzvoll ausgestattet.
Zurück geht es ein paar Hundert Meter zum Hotel, Verschnaufpause. Um 18 Uhr bin ich mit Volodymyr Pylypenko, seiner Frau Olena Rosstalna und mit Vladyslav Savenok verabredet. Ganz in der Nähe des Krasna-Square, ein paar Häuser weiter hatte ich schon im Mai 2024 mit Volodymyr zu Abend gegessen, als ich ihn das erste Mal traf.
Ein herzlicher Empfang, wir haben uns alle schon persönlich getroffen und fühlen uns nicht mehr so fremd miteinander. Die drei aus Tschernihiw sind ohnehin miteinander befreundet. Volodymyr und Olena habe ich bereits im Mai 2024 in Tschernihiw und Vladyslav Ende August in Schwerin persönlich getroffen. Mit Vladyslav hatte ich intensive Funkverbindung bei der Vorbereitung der Eröffnung der Ausstellung „Tschernihiw - Bilder aus einer belagerten Stadt“ Anfang November in der Hochschule Neubrandenburg.
Dr. Volodymyr Pylypenko ist promovierter Historiker, Dozent an einer Hochschule in Tschernihiw, bietet historische Stadtführungen dort an, produziert Filme über die Geschichte der Stadt Tschernihiw und der Region, ist Akteur in vielen Projekten zur Unterstützung ukrainischer Soldaten und war Mit-Kurator der Ausstellung „Tschernihiw - Bilder aus einer belagerten Stadt“, die vom Deutschen historischen Institut in Warschau produziert worden ist. Im Mai 2024 hat Volodymyr mich gleich nach meiner Ankunft zwei Stunden durch die Stadt Tschernihiw geführt.
Wer die Geschichte der Ukraine nicht kennt, kann die Gegenwart nicht verstehen und die Zukunft nicht gestalten. Geschichte ist politisch. Russische Geschichtspolitik hat mit seinen hegemonialen und die Ukraine abwertenden Narrativen über Jahrzehnte das Bild der Ukraine in Deutschland mit geprägt.
Olena Rosstalna ist Projektleiterin bei Art and Media Hub, arbeitet bei Creative Ideas Lab, war Regisseurin und Co-Autorin des Projekts bei Tales from an Old Suitcase, ist Direktorin, Regisseurin und Projektleiterin bei AmaTea Theatre, hat als PhD bei Taras Shevchenko National University of Kyiv gearbeitet und an der Dnipropetrovs'k Nationale Universität und der Taras Shevchenko Nationale Pädagogische Universität studiert. Im Mai 2024 hat Olena mich unter anderem durch das unterirdische St. Antonius Kloster in Tschernihiw geführt. Dieses Höhlen-Kloster alleine ist einen Besuch in Tschernihiw wert. Die St. Anthony's Caves sind ein System von 350 Meter langen unterirdischen Gängen inmitten der Boldyna Hügel. Die Höhlen liegen in einer Tiefe von bis zu 12 Metern und sind auf vier Ebenen verteilt. Zu verschiedenen Zeiten dienten die Höhlen als Begräbnisstätte und Unterkunft für asketische Mönche.
Vladyslav Savenok ist Journalist und Redakteur bei SVOBODA.FM, Geschäftsführender Sekretär bei der Zeitschrift „Literary Chernihiv“, hat als Journalist bei Ukrainian News, Radio Liberty und bei BBC News Ukrainian gearbeitet und war Leiter der Nachrichtenredaktion bei TRA „Novyi Chernihiv“. Vladyslav hat an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität Kyjiv Journalismus studiert. In Tschernihiw kennt Vladyslav anscheinend jede und jeden, einfach alle. Das wird sich auch am nächsten Tag zeigen. Anfang Dezember 2024 hat er seinen 65. Geburtstag gefeiert.
Nachdem Olena und Vladyslav mir einen kleinen, aufstellbaren Kalender aus Holz und mehrere schöne Sammlungen historischer Postkarten überreichen, hole ich meine Mitbringsel hervor. Das Buch 100 Karten über die Ukraine vom KATAPULT Verlag Greifswald auf Ukrainisch (!) beeindruckt Vladyslav und auch Volodymyr ersichtlich. Beide blättern intensiv im Buch.
Ein schöner Abend, nach gut zwei Stunden verabschieden wir uns und alle gehen nach Hause bzw. ich ins Hotel. Vladyslav, Olena, die sehr dankenswerter Weise als Übersetzerin mitkommen will, und ich haben uns für den kommenden Morgen um 8 Uhr für eine Foto-Tour durch die Innenstadt von Tschernihiw verabredet.
© Copyright Text und Fotos Gerhard Bley