21. 11. 2024
Fototour durch das morgentliche Tschernihiw, im Tourismus-Büro, im Studio von Radio Tschernihiw, in der Stadtbücherei Tschernihiw, abendliche Gespräche mit Yuriy und Oleksandr, die zivilgesellschaftlich engagiert sind .... So viele Begegnungen und Gespräche.
Zeitig raus aus dem Bett, gefrühstückt, und pünktlich kurz vor 8 Uhr erscheinen Vladyslav und Olena im Hoteleingang. Draußen schneit es, die Temperatur ist ca. null Grad. Es sieht nicht danach aus, dass die Foto-Tour länger dauern wird.
Frühmorgens in Tschernihiw unterwegs.
Aber wir ziehen los. Vladyslav packt trotz des Schnees seine gute Canon-Kamera aus und wir gehen vom Hotel in Richtung einer Schule. Vladyslav möchte vor der Schule Eltern ansprechen und versuchen, kurze Interviews zu erhalten.
Fotos Gerhard Bley
Fotos und Copyrigth Vlasyslav Savenok, Tschernihiw
Aber die Eltern sind in Eile, schnell die Kinder in die Schule bringen und weiter geht’s zur Arbeit. Keine Zeit für Interviews und kein Interesse. Was will der Journalist überhaupt und was ist das für ein älterer Mann neben ihm, der kein Ukrainisch spricht? Dann erscheint auch noch ein uniformierter Sicherheits-Mann, kurze Diskussion und es ist klar: keine Interviews auf dem Schulgelände. Das wäre zuhause sicher genauso gelaufen, allerdings ohne Sicherheitspersonal.
Vladyslav spricht noch weitere Passanten auf dem Bürgersteig an und geht in einen Blumenlanden, wo er freundlich, aber nachdrücklich versucht, mit den Verkäuferinnen und Kundinnen ein Interview zu erreichen. Hilft aber alles nichts, niemand will. Nachdem die Verkäuferin doch etwas ungehalten wird, verlassen wir das Geschäft. Ich lerne, Vladyslav ist Journalist und als solcher schon etwas hartnäckiger. So leicht lässt er sich nicht abwimmeln.
Also ziehen wir weiter in den Bohdan Khmelnytskyi Garden Park um die Pjatniza-Kirche. Dort steht eine Gruppe älterer Frauen dick eingepackt in Wattejacken und räumt mit Besen und Schneeschieber die Wege frei von Schneematsch und Eis.
Im Bohdan Khmelnytskyi Park in der Innenstadt morgens.
Fotos und Copyrigth Vlasyslav Savenok, Tschernihiw
Vladyslav spricht die Frauen an und tatsächlich sind sie ganz undistanziert offen für ein Interview. Sogar ich werde einbezogen, verstehe zwar nichts, versuche aber mit Stimme und Körpersprache zugewandt und sehr freundlich zu sein. Eine schöne Situation, sehr offen und überhaupt nicht distanziert. Auch unsere Stimmung steigt, trotz Schneetreiben.
Dann quer durch den kleinen Park zur Touristen-Info der Stadt Tschernihiw. Dort treffen wir Kateryna Катерина Литвин , eine sehr freundliche und sympathische Dame.
Es gibt ein gut gelauntes Gespräch, Vladyslav macht ein kleines Interview und Kateryna holt für mich ein Buch aus dem Büro. Interviews von Zeitzeugen der russischen Okkupation Ende Februar bis März 2022. Überraschung, Überraschung, das Buch hatte ich bereits vor etlichen Wochen per Mail als PDF-Datei von Nataliia Kholchenkova, Chernihiv City Council, Head of International Relations and Investments Department, zugesandt bekommen. Ich habe den Text teilweise auf Deutsch übersetzt bereits veröffentlicht. Wir sehen wieder, die Welt ist klein. Ich nehme das Buch natürlich gerne mit.
Schließlich möchte Kateryna mir noch ein Gesteck aus Getreide-Ähren als Adventsschmuck schenken. Allein, ich bekomme es nicht sicher transportiert, vor allem bei dem Schneetreiben nicht. Kateryna bietet an, den Adventsschmuck einzupacken und ich werde ihn am Nachmittag abholen, wenn ich mit dem Auto noch einmal vorbei komme.
Fotos und Copyrigth Vlasyslav Savenok, Tschernihiw
https://chernihiw.travel und https://www.facebook.com/chernihivtravel/ sind Fundgruben für Informationen über Tschernihiw. Die Seite lässt sich im Menü oben rechts auf Englisch umstellen. Es gibt einen Stadtplan, Veranstaltungskalender, Hinweise zu Essen & Trinken & Übernachten. … Sehr ansprechend präsentiert.
Ein paar Meter weiter trifft Vladyslav dann eine Bekannte, die im Theater arbeitet nur gut 100 Meter weiter. Vladyslav umgarnt sie ein wenig und in damenhafter Haltung gibt sie ein Interview, es kommt ein richtiges kleines Gespräch zustande. Vladyslavs Sorge um seine Kamera im Schneetreiben scheint irgendwie verschwunden. Er ist ganz in seinem Element...
Frau Raisa erzählt von der Zeit der russischen Belagerung Ende Februar Anfang März 2022, wie es den Kindern in den Kindergärten und Schulen erging ohne Strom und Heizung. Jetzt sei es besser, aber es gibt immer noch viele Schwierigkeiten. Sie arbeite im Theater ein paar Hundert Meter weiter. Die Bedingungen sind sehr schwierig, es kann nicht ausreichend geheizt werden und über 30 Mitarbeiter des Theaters, auch Schauspieler, sind mobilisiert worden und bei der Armee. Gestern haben sie die Nachricht erhalten, dass Pedro, ein Schauspieler, als Soldat an der Front im Osten gefallen sei. Jetzt bereiten sie die Trauerfeier vor. An mich gerichtet: Tun Sie etwas, damit Tschernihiw, wenn schon nicht ein gutes, so wenigstens ein würdiges Leben hat. Jeden Morgen warten wir auf Hilfe von Europa für ein würdiges Leben.
Zwischendurch hat Vladyslav telefoniert und wir steuern das Studio-Gebäude von Radio Tschernihiw ("Öffentliches Tschernihiw" https://suspilne.media/chernihiv/ ) an, ich kann es kaum glauben. Von außen frisch renoviert, ein Gerüst steht noch am Gebäude, sind wir in wenigen Schritten mitten drin in den Redaktions- und Studioräumen.
Vladyslav kennt hier auch jede und jeden. Der Altersdurchschnitt hier erscheint mir relativ jung. Gleich geht es mit der Redakteurin Yulya Naida in ein Aufnahmestudio und Vladyslav beginnt ein Interview mit Yulya. Ich verstehe kein Wort, aber das Gespräch scheint sehr bewegend zu sein. Yulya scheint zeitweise den Tränen nahe.
Video von Vladyslav Savenok, Tschernihiw Bitte die Untertitel-Funktion und Untertitel-Übersetzungsfuntionvon youtube nutzen.
Danach interviewt Vladyslav einen Kollegen von Yulya, Andriy Sokolov.
Video von Vladyslav Savenok, Tschernihiw Bitte die Untertitel-Funktion und Untertitel-Übersetzungsfuntionvon youtube nutzen.
Vlasyslav interviewt anschließend den Journalisten Andriy Titok. Andriy Titok ist Produzent der Video-Dokumentationen Die Schlacht um Tschernihiw über die Zeit der Belagerung der Stadt Tschernihiw im Frühjahr 2022. In einem Interview erzählt Andriy von der Produktion der Dokumentation und der Zeit der Belagerung (Text im Original und in deutscher Übersetzung). Wer die Menschen in der Region Tschernihiw verstehen will, was sie erlebt haben und warum sie um ihre Freiheit kämpfen, der muss sich mit den Erfahrungen der Menschen in der Zeit der Belagerung auseinandersetzen, so schwer die Bilder auch zu ertragen sind.
Andriy Titok führt uns anschließend ein wenig im Haus herum und erzählt von der Arbeit während der russischen Okkupation im Frühjahr 2022, das Haus war da gerade frisch renoviert und sie konnten nicht richtig arbeiten. In Vitrinen liegen Gegenstände, die an die Zeit im Frühjahr 2022 erinnern. Andriy Titok ist Produzent der Video-Dokumentationen Die Schlacht um Tschernihiw über die Zeit der Belagerung der Stadt Tschernihiw im Frühjahr 2022. In einem Interview erzählt Andriy von der Produktion der Dokumentation und der Zeit der Belagerung (Text im Original und in deutscher Übersetzung). Wer die Menschen in der Region Tschernihiw verstehen will, was sie erlebt haben und warum sie um ihre Freiheit kämpfen, der muss sich mit den Erfahrungen der Menschen in der Zeit der Belagerung auseinandersetzen, so schwer die Bilder auch zu ertragen sind.
Video von Vladyslav Savenok, Tschernihiw Bitte die Untertitel-Funktion und Untertitel-Übersetzungsfuntionvon youtube nutzen.
Andriy Titok führt uns anschließend ein wenig im Haus herum und erzählt von der Arbeit während der russischen Okkupation im Frühjahr 2022, das Haus war da gerade frisch renoviert und sie konnten nicht richtig arbeiten. In Vitrinen liegen Gegenstände, die an die Zeit im Frühjahr 2022 erinnern. Andriy Titok ist Produzent der Video-Dokumentationen Die Schlacht um Tschernihiw über die Zeit der Belagerung der Stadt Tschernihiw im Frühjahr 2022. In einem Interview erzählt Andriy von der Produktion der Dokumentation und der Zeit der Belagerung (Text im Original und in deutscher Übersetzung). Wer die Menschen in der Region Tschernihiw verstehen will, was sie erlebt haben und warum sie um ihre Freiheit kämpfen, der muss sich mit den Erfahrungen der Menschen in der Zeit der Belagerung auseinandersetzen, so schwer die Bilder auch zu ertragen sind.
Das Gebäude des Rundfunksenders in Tschernihiw ist nicht groß, aber modern ausgestattet und es herrscht für mich eine konzentrierte Arbeitsatmosphäre. Was für eine freundliche Aufnahme, welche Offenheit hier!
Fotos und Copyrigth Vlasyslav Savenok, Tschernihiw
Hier sind noch viele spannende Geschichten versteckt, die Transformation der „Medien-Landschaft“ von der sowjetischen Zeit in die demokratische Ukraine und die vielen Turbulenzen der letzten 3 Jahrzehnte. Der Lebenslauf von Vladyslav bildet die Entwicklung ein wenig ab. Social Media scheint hier eine größere Rolle zu spielen als zuhause in Mecklenburg-Vorpommern, auch scheint mir hier die Vielfalt der Informationsquellen breiter. Wie sieht es hier mit den Printmedien aus? Zuhause kämpfen diese Medien um ihre Existenz, die Vielfalt ist geringer geworden, eine größere Zunahme der Internet-Angebote im Social Media-Bereich nehme ich nicht wahr. Am Ende muss sich das alles für die professionell Beteiligten auch rechnen, in Tschernihiw und in Mecklenburg-Vorpommern.
Es ist jetzt fast 12.30 Uhr, Olena muss dringend los zur Arbeit und auch Vladyslavs Zeit für mich ist vorbei. Was für ein spannender Vormittag, so viele Leute getroffen, so viele Eindrücke. Und beim Rundfunksender Tschernihiw war ich. Das würde mir zuhause keiner glauben, wenn ich nicht die vielen Fotos hätte. Was Vladyslav und Olena alles möglich gemacht haben!
Fotos und Copyrigth Vlasyslav Savenok, Tschernihiw
Jetzt schnell zurück zum Hotel, um 15 Uhr habe ich mit Nataliia Kholchenkova die nächste Verabredung im Rathaus von Tschernihiw, in der Nähe des Krasna-Square am Rande eines kleinen Parks. Vorher hole ich noch den Adventsschmuck von Kateryna aus der Tourist-Information ab. Kateryna ist nicht mehr da, aber der Adventsschmuck ist in einem Karton eingepackt und die beiden anwesenden Damen nehmen gerne mein Mitbringsel für Kateryna entgegen, einen Bildband von Mecklenburg-Vorpommern.
Gerade rechtzeitig komme ich beim Rathaus an und werde von Nataliia am Empfang abgeholt. Es geht ins Souterrain in ihr Büro. 15 Uhr und Nataliia schrieb, sie habe eine bis eineinhalb Stunden Zeit. Den Termin mit Nataliia hatte ich schon per E-Mail von zuhause aus vereinbart, wir sind uns noch nicht persönlich begegnet.
Wir nehmen an einem längeren Tisch Platz, Nataliia macht einen Kaffee. An der Wand gegenüber hängt kein Stadtplan von Tschernihiw, sondern eine ukrainische Weltkarte. Symbolisch! Hinter mir an der Wand sind Pläne für die Stadtentwicklung aufgehängt, Illustrationen, die Entwicklungsprojekte veranschaulichen.
Ich versuche zu verdeutlichen, was mein Anliegen ist. Ich möchte Tschernihiw in Deutschland bekannter machen und Verbindungen knüpfen in der Region Tschernihiw und in Norddeutschland. Wie allermeist bei Begegnungen mit Menschen, die mich nicht kennen, versuche ich zu erklären, dass ich nur ein einzelner Bürger bin, ohne öffentlichen Auftrag und ohne eine größere Organisation hinter mir. Nataliia, die ja als Mitarbeiterin der Stadtverwaltung wohl allermeist Kontakt mit ausländischen Funktionsträgern z. B. aus ausländischen Kommunen hat, scheint das nicht zu stören. Tschernihiw stehe vor enormen Herausforderungen im Krieg Russlands gegen die Ukraine und beim Wiederaufbau, aber die Menschen hier in der Ukraine brauchten dringend Zeichen der Solidarität, Zeichen des Interesses und des Mitfühlens, Zeichen, dass sie nicht alleine gelassen würden mit dem Aggressor Russland und mit all den Zerstörungen, die Russland verursacht habe. Und so ein Zeichen sei mein Besuch. Deshalb also nimmt Nataliia mich ernst.
Nach einer guten halben Stunde macht Nataliia den Vorschlag, die Stadtbücherei zu besuchen, die fußläufig entfernt ist. Sehr schön! Bücher, Büchereien finde ich immer interessant.
Eine Fotografin der Stadtverwaltung erscheint mit einer Kamera und wir gehen in den Sitzungssaal des Stadtrates, der an der Stirnseite mit Fahnen geschmückt ist und wohl auch der Raum für offizielle Empfänge ist. Dort sitzt aber der Bürgermeister und führt ein Gespräch mit einem Mann. Nataliia geht rein, spricht den Bürgermeister an, der steht auf, ich werden rein gewunken, stehe plötzlich vor dem Bürgermeister, stelle mich kurz mit Namensnennung vor, Nataliia sagt ein paar Worte, der Bürgermeister und sein Gesprächspartner verlassen den Raum und Nataliia positioniert mich und sich für die Fotografin zwischen den Fahnen an der Stirnseite. Ich bin ganz baff. Der Bürgermeister von Tschernihiw verlässt mit seinem Gesprächspartner den Raum, weil eine Mitarbeiterin von ihm mit einem Gast aus Deutschland, einer Privatperson, ein paar Fotos vor den Fahnen machen will? Undenkbar in Deutschland. Undenkbar, denke ich.
Die Fotografin macht ein paar Fotos, wir ziehen unsere Mäntel wieder an und heraus geht es zur Stadtbücherei.
Im Nachhinein nehme ich die Situation als ein Symbol, wie wichtig die von Nataliia angesprochenen Zeichen der Solidarität aus dem Ausland sind und dass diese Zeichen in der Stadt Tschernihiw bekannt gemacht werden sollen. Am nächsten Tag sehe ich auf Facebook die entsprechende Nachricht mit einem Bild von Nataliia und mir….
In der Stadtbücherei Tschernihiw werden wir von der Leiterin Ganna Puschkar / Ганна Пушкар begrüßt. Das Gebäude ist sichtlich neu renoviert und modern ausgestattet. Wir gehen die Treppe hinauf in den ersten Stock, wo auf dem Treppenabsatz eine Statue eines sitzenden Mannes steht, die einen Riss in der Mitte hat. Während der russischen Okkupation im Frühjahr 2022 war die obere Hälfte der Statue abgebrochen und herunter gefallen. Jetzt sind die Teile wieder zusammengefügt, der Riss in der Mitte bleibt sichtbar. Mir kommt die Statue sehr bekannt vor. Ich kenne sie von einem Bild aus der Ausstellung „Tschernihiw, Bericht aus einer belagerten Stadt“, die in Schwerin und Neubrandenburg gezeigt worden ist. Wir gehen in einen größeren Lesesaal, der auch zwei Computer-Arbeitsplätze hat. Hier können Leute auch arbeiten, wenn zuhause wegen Stromausfall und fehlendem Diesel-Generator der Computer nicht läuft.
Einer Fotografin umschwirrt uns nahezu die ganze Zeit. Hier lerne ich, dass Öffentlichkeitsarbeit über social media in Tschernihiw, wohl in der ganzen Ukraine, einen anderen Stellenwert hat. "Tue Gutes und rede darüber", die Stadt, die Gemeinde teilhaben lassen, was auch an kleineren Ereignissen passiert, ist hier viel verbreiteter. Ich denke, dass erzeugt auch Bindung zu den Nutzern der Stadtbücherei und trägt zu einem Gemeinschaftsgefühl bei. Wahrscheinlich korrespondieren die online-Angebote mit der Nutzung von social media-Angeboten aus dem lokalen Umfeld. Die Fotos bekomme ich später ungefragt zum download zur Verfügung gestellt werden. Am nächsten Tag gibt es einen Facebook-Post zu meinem kurzen Besuch als Ehrenamtler.
Die Leiterin der Bücherei zeigt mir eine Präsentation auf einem Monitor, ich verstehe zwar nicht alles, bin aber von dem Empfang hier schwer beeindruckt. Die gerade renovierte Zentrale der Stadtbücherei von Tschernihiw wird ergänzt durch Filialen in den Stadtteilen, die näher an den Wohnorten vieler Bürger sind. Auf Bildern wird mir gezeigt, in welch´ desolaten Zustand diese Stadtteilbüchereien sind und mir wird verdeutlicht, dass hier Hilfe aus Deutschland gebraucht wird.
Die Bücherei ist an Kooperationen mit vergleichbaren Einrichtungen in Deutschland interessiert. Ich erwähne, dass in Mecklenburg-Vorpommern seit der russischen Vollinvasion in die Ukraine etwa 30.000 Menschen aus der Ukraine leben, vor allem Frauen und auch viele Kinder, die in Mecklenburg-Vorpommern zur Schule gehen. Für viele ist wohl unklar, wo sie später leben werden, ob sie in Deutschland bleiben oder in ihre Heimat in die Ukraine zurückkehren. Jedenfalls ist mir ein großes Interesse der Eltern bekannt, dass die Kinder einen guten Kontakt zur ukrainischen Kultur behalten sollen, dass sie auch weiter Ukrainisch lesen und schreiben lernen sollen, auch um den Kontakt zu ihren Verwandten in der Ukraine zu halten.
Ich erzähle, dass es in der Stadtbücherei in Wismar ein ganzes Regal mit ukrainischen Büchern gibt, vor allem Bücher für Kinder und Jugendliche. Vorsichtig deute ich an, dass ich versuchen könnte, vermittelnd tätig zu sein, auch wenn der Erfolg solcher Bemühungen unklar und mühsam sei. Vielleicht gibt es ein teilweise paralleles Interesse von Stadtbüchereien in Deutschland und in der Ukraine.
Nataliias Zeit für mich geht zu Ende, wir verlassen die Bücherei etwa 16.30 Uhr. Nataliia geht zurück ins Rathaus und ich zu meinem Auto, dass zweihundert Meter weiter neben dem Theater geparkt ist.
Nach meinem Plan habe ich um 18 Uhr eine Verabredung mit Oleksandr Pidhornyy. Oleksandr hatte als Treffpunkt das Restaurant Cherish vorgeschlagen, mit dem Hinweis „i speak ukrainian“. Schon die Anbahnung des Treffens war ein kleiner Hindernislauf und so ging es zunächst auch weiter.
Ursprünglich hatte ich Nataliya Drozd angeschrieben wegen eines Treffens. Nataliya ist Vorsitzender des Verwaltungsrats des bei Центр Доброчин / Dobrochyn Center in Tschernihiw, einer NGO, die nach eigenen Angaben aktiv die Maßnahmen der Behörden überwacht und die Bürger aktiviert.
Nataliya schrieb aber, sie sei zu der Zeit verreist und ich könne mich mit Oleksandr Pidhornyy treffen, der sie vertreten würde während ihrer Abwesenheit. Die Kommunikation lief wie allermeist mit dem facebook-messanger. Oleksandr ist Vorstandsvorsitzender bei Chernihiv Human Rights Centre. Das wusste ich schon länger, bereits im Frühjahr 2024 hatte ich ihn per Mail angeschrieben, aber keine Antwort erhalten. Dann hatte ich Oleksandr im Juli als Teil der Delegation des DUB in Schwerin getroffen.
Nach dem Hinweis von Oleksandr „i speak ukrainian“ per facebook-messanger wollte ich das Treffen absagen. Wie sollte eine Kommunikation erfolgen, wenn ich nur ein Wort Ukrainisch (Дякую - dyakuyu – Danke) kenne und Oleksandr praktisch kein Englisch und - was Wunder - auch kein Deutsch spricht. Aber Oleksandr hielt an dem vereinbarten Treffen fest und hatte eine Möglichkeit der Übersetzung organisiert. Oleksandr hatte mir per messanger den Standort des Lokals geschickt, auf meinem Handy wurde als Name "Mafia" angezeigt. Das fängt ja gut an. ... Um 17.45 betrat ich das georgische Restaurant Cerish, relativ groß und modern eingerichtet, entdeckte Okeksandr, der mir gleich zuwinkte und auf mich zukam. Und so lernte ich auch Yuriy Korol kennen, der mir als Übersetzer vorgestellt wurde. Beide hatten allerdings schon seit 16 Uhr auf mich gewartet, ließen sich aber keinerlei Verärgerung anmerken. Stimmt, wir hatten uns für 16 Uhr verabredet, wie ich feststellte, als ich die entsprechenden messanger-Nachrichten prüfte. Das Durcheinander war mir sehr peinlich, ich entschuldigte mich, und bald entstand ein interessantes und angeregtes Gepräch.
Das fand zunehmend mit Juriy statt, da er zwar ständig für Oleksandr übersetzte, sich aber selbst auch inhaltlich einbrachte und die Übersetzungen natürlich immer etwas hinter dem Inhalt des Gesprächs zwischen Yuriy und mir zurück bleiben. Yuriy war ein Student von Olena Rosstalna (gewesen?) und wie sich herausstellte, hatte Olena im Hintergrund mit dafür gesorgt, dass Yuriy als Übersetzer teilnahm. Auch mit Volodymyr ist Yuryi gut bekannt. Beide hatten kurz vor meinem Besuch bei Radio Tschenihiw in einer Sendung der beiden Redakteure mitgewirkt,die ich am Vormittag noch im dortigen Studio getroffen hatte. Tschernihiw ist ein Dorf (mit über 280.000 Einwohnern) ….
Yuriy erzählte ausführlich und sehr interessant über die regionale und wirtschaftliche Entwicklung im Norden der Ukraine. Ich hatte natürlich erst einmal kurz erwähnt, warum ich in die Region gekommen bin und dass ich noch nach Korjukiwka und Nizhyn fahren werde. Gerade Korjukiwka mit seiner Randlage und Nähe zur Grenze nach Russland stehe vor großen Herausforderungen.
Weiter ging es um die Entwicklung von NGO´s in der Region Tschernihiw, bei denen es eine große Dynamik gebe. NGO´s in der Ukraine müssen sich registrieren lassen, wenn sie auch nur aus zwei Personen bestehen. Nach dem Ende der russischen Okkupation sei die Zahl der NGO´s in der Region Tschernihiw stark gestiegen. Es wurden Spenden gesammelt und humanitäre Hilfe organisiert, es wurde bei notdürftigen Reparaturmaßnahmen geholfen und das Militär unterstützt. Die personelle Fluktuation sei aber erheblich gewesen, teilweise hätten Gruppen (nach außen NGO) nur noch aus zwei Personen bestanden, die aber noch über Hilfsgelder oder Spenden verfügt hätten, ohne real noch sachgerecht agieren zu können. Für mich habe ich das auch so verstanden: Vorsicht bei Nachrichten auf Facebook über NGO-Gruppen, wie allermeist im Internet und vor allem bei „social media“, der äußere Schein kann stark von der Realität abweichen.
Aber die Dynamik ist auch nachvollziehbar angesichts der Dynamik der Lebensverhältnisse und der kriegsbedingten Mobilität vieler auch jüngerer Menschen in der Ukraine.
Das Gespräch ging auch um die unterschiedlichen Altersgruppen und deren Sozialisation in der Ukraine und in Ostdeutschland und parallele Erscheinungen. Bis 1990 hat das System und die Ideologie der Sowjet-Union, wovon die Ukraine ja als USSR ein Teil war und welche die DDR sehr stark beeinflusst hat, die Sozialisierung der dort lebenden Menschen geprägt. Und diese Prägung wirkt nach, bis heute.
Yuriy erzählte, dass ältere Menschen in der Ukraine für bürgerschaftliches Engagement und den Aufbau der Demokratie deutlich schwerer zu gewinnen seien als jünger Menschen, die die Europäische Union und eine rechtsstaatliche Demokratie als Ziel klar vor Augen hätten. Hinzu käme die Demographie, die Zahl der jungen Menschen an der Gesamtbevölkerung sei zurück gegangen und damit auch das Potential für die Entwicklung der Demokratie in der Ukraine. Hier gibt es eine Parallele zu Ostdeutschland mit dem Einbruch der Zahl der Geburten Anfang der 1990´er Jahre.
Eine Bildung junger Menschen für die aktive Teilnahme an einer demokratischen Entwicklung hat es in der Ukraine und in Ostdeutschland vor 1990 nicht gegeben. Im Gegenteil war individuelles Engagement außerhalb staatlich und ideologisch gesteuerter große Organisationen, gerade auch Jugendorganisationen unerwünscht und würde unterbunden. Diese fehlende politische Bildung wirkt in Ostdeutschland und in der Ukraine fort bei Menschen, die 1990 vielleicht 15 Jahre oder älter waren. Und auch auf die damals noch Jüngeren hat die Sozialisation ihrer Eltern unter der sowjetischen Ideologie und Hegemonie noch lange prägend gewirkt.
Um ca. 20.30 Uhr beendeten wir das Gespräch. Ich versuche noch, dass Essen für uns alle zu bezahlen, vergebens, das hatten Oleksandr und Yuriy schon erledigt. Auch später sollte ich mehrfach erleben, dass meine Haltung, meine Gesprächspartner „einladen“ zu wollen, wohl ziemlich unpassend war.
Was für ein spannender Abend!
Zurück ins Hotel, Sachen packen und Pause. Für den nächsten Vormittag steht noch ein Besuch im Historischen Museum Tschernihiw auf dem Plan. Und um etwa 12 Uhr möchtete ich nach Korjukiwka aufbrechen.
Was für ein Tag!
© Copyright Text Gerhard Bley, Fotos Vladyslav Savenok und Gerhard Bley